Erinnern und mahnen

Die Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus soll das Projekt #StolenMemory der Arolsen Archives zurückbringen: Direktorin Floriane Azoulay (2. von links) erläuterte Ministerpräsident Boris Rhein (links) und Landtagspräsidentin Astrid Wallmann (2. von rechts) die Wanderausstellung. © Fotos: Elmar Schulten/dpa
Erinnern und mahnen
Landesweite Gedenkveranstaltung zur Auschwitz-Befreiung

Bad Arolsen – Mit einer eindrucksvollen Gedenkveranstaltung im Bürgerhaus von Bad Arolsen haben die Verfassungsorgane des Landes Hessen, vertreten durch Landtagspräsidentin Astrid Wallmann, Ministerpräsident Boris Rhein und dem Präsidenten des Staatsgerichtshofes, Dr. Wilhelm Wolf, an die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch sowjetische Truppen vor 80 Jahren erinnert. Gleichzeitig wurde aller Opfer und Opfergruppen des Nationalsozialismus gedacht, dazu gehörten Juden, Sinti und Roma genauso wie Körperbehinderte und Homosexuelle.
Auschwitz sei zu einer Chiffre für das größte Menschheitsverbrechen, die Shoah, geworden, stellte Landtagspräsidentin Astrid Wallmann fest.
Das Gedenken dürfe nicht zu einem bloßen Erinnerungsritual werden, mahnte Ministerpräsident Boris Rhein. Die Erinnerung müsse von Generation zu Generation weitergetragen werden: „Wir warnen und mahnen, wie zerbrechlich unsere Werte sind.“ Auschwitz stelle das Unvorstellbare an menschlichen Abgründen dar. Und deshalb reiche es nicht zu sagen, „die Nazis“ hätten das Unrecht begangen. Es seien vielmehr ganz normale Menschen gewesen, die zugeschaut, gejohlt und mitgemacht hätten, als ihre Nachbarn abgeholt wurden. Nur zuschauen und nichts tun habe das Unrecht erst möglich gemacht. Rhein: „Gleichgültigkeit ist die größte Gefahr. Demokratie braucht Einmischung und Haltung.“ Oskar Schindler habe gezeigt, dass es immer eine Möglichkeit gebe, etwas zu tun.
Als Antisemitismusbeauftragter der hessischen Landesregierung mahnte Staatssekretär Uwe Becker, dass jüdisches Leben heute wieder so sehr bedroht sei wie nie seit der Befreiung von Auschwitz. Aus dem entschiedenen „Nie wieder“ der Nachkriegsjahre sei heute ein „Schon wieder“ geworden.
Nicht erst seit dem Überfall der Hamas auf Israel am 17. Oktober 2023 und die folgende Geiselnahme sei Israel-Hass weltweit, aber auch in deutschen Straßen und an deutschen Universitäten wieder allgegenwärtig. Dahinter verberge sich der altbekannte Judenhass, wenn auch verbrämt mit harscher Kritik am Staate Israel. Mit Sprüchen wie „From the river to the sea“ (Vom Jordan ins Meer) sei nichts anderes als die Vernichtung des Staates Israel gemeint. Deshalb sei es an der Zeit, derartige Auslöschungsfantasien unter Strafe zu stellen.
ELMAR SCHULTEN »SEITE 3
Das Vernichtungslager Auschwitz
Im deutschen Konzentrationslager Auschwitz auf dem Gebiet des heutigen Polen hat das nationalsozialistische Unrechtsregime von 1940 bis 1945 bis zu 1,5 Millionen Menschen systematisch von der SS ermorden lassen. Die während des Zweiten Weltkrieges europaweit gefangen genommenen Menschen wurden per Bahn in das KZ Auschwitz deportiert, etwa 90 Prozent waren Juden. Am 27. Januar 1945 befreiten Sowjetsoldaten den Lagerkomplex.
ES
Schon wieder Judenhass
Staatssekretär prangert auf Israel bezogenen Antisemitismus an


Die hessenweite Gedenkveranstaltung für die Opfer des Nationalsozialismus fand am 80. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz im Arolser Bürgerhaus statt. In der ersten Reihe saßen neben Landtagspräsidentin Astrid Wallmann außer Ministerpräsident Boris Rhein auch weitere Mitglieder der Landesregierung, der Präsident des Hessischen Staatsgerichtshofes sowie Floriane Azoulay, die Direktorin der Arolsen Archives. © Fotos: Elmar Schulten
Bad Arolsen – Ganz bewusst sei das Arolser Bürgerhaus als Veranstaltungsort für die landesweite Gedenkveranstaltung zur Auschwitz-Befreiung gewählt worden, bekräftigte Bürgermeister Markus Röder aus Hofbieber, der in seiner Funktion als Präsident des Hessischen Städte- und Gemeindebundes Mitausrichter der Veranstaltung war. Man habe damit zeigen wollen, dass die Erinnerung an das nationalsozialistische Unrecht in die Mitte der Gesellschaft gehöre.
Und weil Erinnerung eine Generationen übergreifende Aufgabe sei, sei es auch wichtig und richtig, dass so viele Schüler der weiterführenden Schulen in Bad Arolsen, der Christian-Rauch-Schule und der Kaulbachschule, an der Veranstaltung teilnahmen. Den würdevollen musikalischen Rahmen, unter anderem mit der Orchesterfassung des Bonhoeffer-Gedichts „Von guten Mächten“, gestaltete das Orchester der Christian-Rauch-Schule unter Leitung von Lisa Maria Siegel.
Die vierte Generation nach dem größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte sei aufgefordert, ihren Teil dazu beizutragen, damit sich solche Barbarei nicht wiederholen könne. Jüngste Ereignisse wie der Überfall der Hamas auf jüdische Zivilisten zeige, wie zerbrechlich die Lage sei. Es gelte, ein Bewusstsein für die Gefährdung der Demokratie zu schaffen.
Das bekräftigte auch Landtagspräsidentin Astrid Wallmann, die daran erinnerte, dass erst der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer mit dem von ihm maßgeblich voran getriebenen Auschwitz-Prozess die deutsche Öffentlichkeit Anfang der 1960er Jahre erstmals mit den schrecklichen Verbrechen konfrontiert hatte, die im deutschen Namen geschehen waren.
Die Aufarbeitung der NS-Diktatur sei ein langer Weg gewesen. Umso schlimmer sei es nun festzustellen, dass seit dem Angriff der Hamas auf Israel eine neue Welle des Antisemitismus in deutschen Straßen zu spüren sei. Wieder würden Juden in aller Öffentlichkeit bedrängt und bedroht.
Auf diese besorgniserregende Entwicklung ging auch Staatssekretär Uwe Becker in seiner Eigenschaft als Antisemitismusbeauftragter der Landesregierung ein. 20 Jahre habe es gebraucht, bis nach Kriegsende erstmals öffentlich in Deutschland über die Massenvernichtung von Menschen in Auschwitz gesprochen worden sei. 35 Jahre nach Kriegsende habe die amerikanische TV-Serie „Holocaust“ ein millionenfaches Erschrecken in Deutschland ausgelöst.
Bis dahin sei in vielen deutschen Familien die Ausrede zu hören gewesen, von all dem Unrecht nichts gewusst zu haben. Dabei hätten doch die brennenden Synagogen als rauchende Zeichen von jedermann in Deutschland als Warnung verstanden werden müssen, so Becker.
Auschwitz habe am Ende einer entmenschlichten Gesellschaft gestanden. „Und die Täter waren nicht irgendwelche fremden Wesen. Sie kamen aus der Mitte der Gesellschaft“, stellte der Antisemitismusbeauftragte fest.
Heute sei es wichtig, nicht noch Kränze in Erinnerung an die getöteten Juden niederzulegen, sondern auch Bäume für das jüdische Leben zu pflanzen. Deshalb sei die Anregung von Kultusminister Armin Schwarz richtig, Schülerbegegnungen zwischen hessischen und israelischen Schulen zu fördern.
Sorge bereite die Tatsache, dass Juden in Deutschland wieder Angst haben müssten, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen. Der auf Israel bezogene Antisemitismus habe sich zu einer echten Bedrohung entwickelt. Propalästinensische und islamistische Bestrebungen zielten auf die Auslöschung jüdischen Lebens, so Staatssekretär Becker. Dabei spannte er den Bogen von den Skandalen um die Dokumenta 15 über die der Frankfurter Buchmesse bis hin zur „Jerusalem Declaration“. Die Autoren dieser Israel-Kritik hätten es mit ihrem Hass und ihrer Hetze auf jüdisches Leben abgesehen. Das müsse man ernstnehmen.
Deutschland sei mit seiner historischen Schuld zur Solidarität mit Israel verpflichtet. Doch das „große Aber“ stehe häufig im Raum und bedeute doch nichts anderes als die Relativierung des Judenhasses, so Staatssekretär Becker. Gerade angesichts der Gewalt und der Auslöschungsphantasien der Hamas sei es angebracht, mehr Empathie für Israel und die jüdische Bevölkerung aufzubringen.
ELMAR SCHULTEN

Ein Zeichen für Demokratie, Vielfalt und Toleranz
Führung durch Arolsen Archives verbindet Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft

Archivführung: Direktorin Floriane Azoulay (rechts) erklärte Wissenschaftsminister Timon Gremmels und Landtagspräsidentin Astrid Wallmann Dokumente im Archiv. © Foto: Saure
Bad Arolsen – Im Rahmenprogramm der Gedenkveranstaltung für die Opfer des Nationalsozialismus konnten sich die Besucher sowohl die Wanderausstellung #StolenMemory der Arolsen Archives auf dem Platz zwischen Bürgerhaus und Rathaus anschauen als auch eine Führung durch ein Archiv der Arolsen Archives anschließen. Zusätzlich wiesen Schüler der Christian-Rauch-Schule mit Plakaten auf den ehemaligen Gefängnishof am Historicum hin.
Mit den Arolsen Archives, deren Direktorin Floriane Azoulay in ihrem Grußwort darauf hinwies, dass sich die Verantwortung der Gesellschaft, die Wahrheit ans Licht zu bringen und sich gegen eine Wiederholung der Shoah zu stellen, in der Arbeit der Arolsen Archives widerspiegeln würde, verfügt die Stadt Bad Arolsen über ein Archiv, das sich genau diesem Thema widmet. Zum UNESCO-Weltdokumentenerbe gehörend, umfasst das Archiv Hinweise auf 17,5 Millionen Menschen, sichert Beweise und schafft Klarheit für Opfer und deren Familien.
Landtagspräsidentin Astrid Wallmann zeigte sich ebenso wie Wissenschaftsminister Timon Gremmels tief beeindruckt bei der Führung durch Floriane Azoulay. „Sie haben hier ein wichtiges, wertvolles Gut. Ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihre Arbeit und bin sicher nicht zum letzten Mal hier“, dankte Wallmann der Direktorin der Arolsen Archives. Besonders eindringlich verdeutlichte Giora Zwilling, dass die Dokumente mehr sind als Zahlen und Namen auf Papier. Er zeigte den Besuchern, die hauptsächlich der Landesregierung angehörten, eine Mappe mit Häftlingsnummern aus Stoff. Diese waren Toten eines Massengrabes aus der Kleidung entfernt worden.
Direktorin Azoulay sprach eine Bitte an das Publikum im Bürgerhaus aus. Damit „Nie wieder“ keine leere Floskel bleibe, rief sie dazu auf, sich aktiv an der Erinnerungsarbeit zu beteiligen, um einen eigenen Beitrag zu leisten, sich gegen das Vergessen und für die Erinnerung einzusetzen.
Mit nur wenigen Klicks könne sich jeder an der Kampagne #everynamecounts beteiligen und damit helfen, Namen und Daten von Opfern des Nationalsozialismus zu erfassen, um auf diese Weise ein Zeichen für Respekt, Demokratie und Vielfalt zu setzen.
HEIKE SAURE
2025 WLZ 28. 01.