„Es ist fünf nach zwölf“

Fünf Landkreise kritisieren unzureichende Finanzierung

Waldeck-FrankenbergDie fünf nordhessischen Landkreise schlagen Alarm. Grund ist ihre desolate finanzielle Situation. Bei einer Pressekonferenz im Kreishaus in Kassel haben die Landräte Andreas Siebert (Kassel, SPD), Jürgen van der Horst (Waldeck-Frankenberg, parteilos), Winfried Becker (Schwalm-Eder, SPD), Torsten Warnecke (Hersfeld-Rotenburg, SPD) und Nicole Rathgeber (Werra-Meißner-Kreis, Freie Wähler) ein gemeinsames Positionspapier an Bund und Land unterzeichnet. Das gab es so noch nie. Tenor der Resolution: Es ist nicht fünf vor, sondern schon fünf nach zwölf.
„Wenn die kommunale Familie nicht mehr handlungsfähig ist, wird das Vertrauen in die staatlichen Institutionen weiter abnehmen. Das darf so nicht weitergehen“, heißt es in dem Schreiben. Die Landräte fordern eine gerechtere Aufteilung der Umsatzsteuer. Sie kritisieren „Detail-Regelverliebtheiten“. Sie fordern Bund und Land auf, Sozialleistungsgesetze auf Angemessenheit, Wirksamkeit und Finanzierbarkeit zu überprüfen und die Kosten für die Ganztagsbetreuung zu übernehmen. „Der Gesetzgeber muss jetzt handeln und für eine auskömmliche Finanzierung aller staatlichen Ebenen sorgen.“
Zwar seien gute Gesetze verabschiedet, aber die langfristige Finanzierung ausgeblendet worden: „Die Kommunen müssen staatliche Aufträge erfüllen, werden aber nicht mit den notwendigen finanziellen Mitteln ausgestattet.“ Für die Kreisverwaltungen werde es immer schwerer, ihren Aufgaben gerecht zu werden, die sie als Dienstleister für die Kommunen und damit für die Menschen vor Ort erfüllen. In den nordhessischen Landkreisen leben mehr als 780.000 Menschen in 112 Städten und Gemeinden.
Dass das hessische Innenministerium im Finanzplanungserlass im November darauf hingewiesen hatte, dass die mehr als 400 Kommunen im Land Rücklagen in Höhe von 8,2 Milliarden Euro angehäuft hätten, die für den Haushaltsausgleich zur Verfügung stünden, sorgt bei den Landräten für Kopfschütteln: „Das Geld ist nicht mehr da“, sagt Jürgen van der Horst. De facto habe keiner der heimischen Landkreise mehr Rücklagen. „Wir mutieren langsam zu Insolvenzverwaltern“, sagt Andreas Siebert.
Weil die Kreise keine eigenen nennenswerten Steuereinnahmen haben, bleibt ihnen oft nur, die Kreisumlage zu erhöhen. Das haben im vergangenen Jahr 16 der 21 hessischen Landkreise getan. Zahlen müssen die Abgabe die Kommunen – die sich oft gezwungen sehen, etwa die Grundsteuer zu erhöhen, was in den Orten für Kritik sorgt. Warnecke: „Wir können die Bürger nicht immer weiter ausquetschen, bis es quietscht.“
SEBASTIAN SCHAFFNER

Land stellt Stundung in Aussicht

Das Land weiß um die prekäre Haushaltslage der Kommunen und hat ihnen im Finanzplanungserlass im November eine unbürokratische Stundung der Hessenkasse-Beiträge in Aussicht gestellt. Die Aufsichtsbehörden würden zudem Ermessens- und Handlungsspielräume „flexibel nutzen, um im Einzelfall auch für unausgeglichene Haushalte eine Genehmigung herbeizuführen, damit die Kommunen handlungsfähig bleiben.“
SES

Zu wenig Geld für zu viele Aufgaben

Landräte setzen mit Hilferuf Zeichen an Bund und Land

Haben sich den Frust von der Seele geschrieben: Die Landräte Winfried Becker (Schwalm-Eder), Torsten Warnecke (Hersfeld-Rotenburg), Andreas Siebert (Kassel), Jürgen van der Horst (Waldeck-Frankenberg) und Nicole Rathgeber (Werra-Meißner) bei der Unterzeichnung des zweiseitigen Positionspapiers. © Foto: Sebastian Schaffner

Schwalm-EderDas gab es auch noch nie: Fünf nordhessische Landräte laden zu einer gemeinsamen Pressekonferenz ein, um der Öffentlichkeit mitzuteilen, dass ihnen das Geld ausgeht. Das zweiseitige Positionspapier, dass Andreas Siebert (Landkreis Kassel), Jürgen van der Horst (Waldeck-Frankenberg), Winfried Becker (Schwalm-Eder), Torsten Warnecke (Hersfeld-Rotenburg) und Nicole Rathgeber (Werra-Meißner) symbolisch im Kreishaus in Kassel an Bund und Land unterzeichnet haben, ist ein Hilferuf. Die Botschaft, die die Landräte damit aussenden, ist unmissverständlich: So geht‘s nicht weiter.

■ Höhere Anforderungen

Die Gründe für die miserable finanzielle Lage sind aus Sicht der Landräte vielfältig. Bund und Land würden den Kreisen und Kommunen immer mehr Aufgaben übertragen, dabei aber versäumen, sie mit dem nötigen Geld auszustatten. Ein Beispiel sei der vom Bund beschlossene Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung ab 2026. „Dafür müssen wir im Schwalm-Eder-Kreis allein 30 Millionen Euro in die Hand nehmen, um zu bauen“, sagt Winfried Becker. Acht Millionen würden gefördert, „22 Millionen müssen wir selbst finanzieren.“ Die Landräte sagen, sie hätten keine Stellschrauben mehr, diese Aufgaben und die damit verbundenen Kosten „sozialverträglich zu erwirtschaften“. Doch auch andere Faktoren spielten eine Rolle.

■ Defizitäre Kliniken

Vier der fünf nordhessischen Landkreise sind Träger kommunaler Krankenhäuser. Alle schreiben rote Zahlen. „Wir übernehmen Aufgaben, die andere nicht mehr übernehmen können oder wollen“, sagt Torsten Warnecke. Landkreise hätten einen Versorgungs- und Sicherstellungsauftrag und könnten nicht einfach die Augen verschließen. Das führt allerdings zu teils gigantischen Finanzspritzen, die die betroffenen Kreistage ihren Kliniken gewähren müssen, um sie wirtschaftlich am Leben zu halten.

Im 2025er-Haushalt des Kreises Hersfeld-Rotenburg schlägt der Klinikbetrieb, der in den nächsten Jahren für 180 Millionen Euro erneuert wird, mit 40 Millionen Euro zu Buche. Der Kreis Kassel schulterte für seine beiden Klinikstandorte in Wolfhagen und Hofgeismar im vergangenen Jahr 19 Mio. Euro Verlust. „Im Klinikum Werra-Meißner lag das Defizit in den vergangenen Jahren bei acht bis zehn Millionen Euro“, berichtet Nicole Rathgeber. In Waldeck-Frankenberg ist geplant, das Stadtkrankenhaus Korbach und die Kreisklinik Frankenberg unter der Trägerschaft des Landkreises zu fusionieren. Beide Häuser erwirtschafteten laut Jürgen van der Horst 2024 zusammen rund elf Mio. Euro Verlust. „Am Ende des Tages muss das natürlich der Bürger bezahlen. Das ist unser Solidarprinzip“, sagt Andreas Siebert.

■ Hohe Sozialleistungen

Ein weiterer Grund für die finanzielle Schieflage der Landkreise sei der „eklatante Anstieg der Transferleistungen“, wie es Nicole Rathgeber ausdrückt. 2020 habe die Summe im Werra-Meißner-Kreis noch bei 60 Mio. Euro gelegen. Jetzt seien es 95 Mio. Euro. „Wir wissen nicht, wo das noch hinführen soll. Inzwischen gehen 90 Prozent des gesamten Haushalts für Soziales, Jugend und Senioren drauf.“ Alle anderen Aufgaben müssten mit den restlichen zehn Prozent bestritten werden. Das werde aber immer schwieriger. Rathgeber: „Wir wollen aber gestalten, nicht nur verwalten.“

■ Keine Rücklagen mehr

Das Land Hessen verweist im Finanzplanungserlass im November darauf, dass die mehr als 400 hessischen Kommunen zusammen „rein rechnerisch“ 8,2 Milliarden Euro Rücklagen hätten. „Die tatsächliche Zahlenlage ist jetzt eine andere“, sagt Jürgen van der Horst. Viele Kommunen hätten ja schon 2024 ihre Defizite ausgleichen müssen. Das Geld sei jetzt aufgebraucht. „Die Rücklagen sind weg, die Kassen sind leer“, sagt er.

Nicole Rathgeber veranschaulicht für ihren Landkreis die rasante Talfahrt: „Am 31. Dezember 2023 hatten wir elf Millionen Euro auf dem Konto. Ein Jahr später waren es minus 17 Millionen.“ Andreas Siebert kündigt an, den Kreistag demnächst bitten zu müssen, den Liquiditätskredit für den Landkreis Kassel auf 75 Mio. Euro zu erhöhen. „Das sind Dimensionen, die hatten wir noch nicht.“

■ Sorge um Demokratie

Große Sorgen bereiten die leeren Kassen und die damit einhergehenden Folgen den Landräten auch mit Blick auf die Demokratie. Eine ernste Zerreißprobe könnten, so befürchtet Winfried Becker, die Kommunalwahlen 2026 werden. „Wenn sich nichts ändert, werden die politischen Ränder gestärkt und wir als kommunale Familie an die Wand gefahren.“ Deshalb erhoffen sich die Landräte von ihrem Positionspapier, dass ihr Anliegen gehört wird und dass das Land auf Augenhöhe an sie herantritt. „Wir brauchen eine neue Grundvereinbarung“, sagt Andreas Siebert.
SEBASTIAN SCHAFFNER

2025 WLZ 23. 01.