Auf den Spuren der Neandertaler
Urzeit-Menschen jagten im Raum Frankenberg – Birgit Belohlavek-Hesse präsentiert Funde
Erfolgreiche Hobby-Archäologin: Birgit Belohlavek-Hesse präsentiert hier ein Keilmesser eines Neandertalers – einer ihrer insgesamt 35 Funde zu dieser früheren Menschenart im Raum Frankenberg. Keilmesser wurden neben anderen Funktionen auch zum Zerlegen von Fleischstücken aus Beutetieren genutzt. Weitere Funde zeigen die Bilder rechts. © Fotos: Klaus Jungheim
Frankenberger Land – Die Ederaue vor rund 100.000 Jahren. Es pfeift ein kalter Wind. Vereinzelt sind Schneereste zu sehen. Tauwetter hat eingesetzt. Der Boden ist weich. Tiere hinterlassen darin Spuren. Dies entgeht einigen Urzeit-Menschen nicht – Neandertaler auf der Jagd. Seit Tagen wandert die kleine Gruppe entlang der Eder flussaufwärts. Die sieben Männer verfolgen Wollnashörner, die vor ihnen geflüchtet sind.
Die Tiere wähnen sich inzwischen in Sicherheit. Sie grasen. Doch die Jäger haben sie in der Ederaue eingeholt und gehen diesmal vorsichtiger und geschickter vor. Inmitten dichter Büsche haben sie Stellung bezogen. Der Anführer der Neandertaler wagt es plötzlich: Blitzartig steht er auf, zielt kurz und schleudert seinen Wurfspeer. Er trifft. Ein stattliches männliches Tier bricht zusammen.
Rasch springen die anderen Neandertaler aus dem Versteck, rennen auf das schwer verletzte Wollnashorn zu und geben ihm mit ihren Speeren den Todesstoß. Die restliche Herde flüchtet panisch, die Jäger jubeln triumphierend. Sie haben Fleisch erbeutet. Nahrung für ihre Großfamilie. Das Hungern hat ein vorläufiges Ende.
Der Jagd- und Beutezug einer kleinen Neandertaler-Gruppe entspringt der Phantasie des Autors. Aber diese Schilderung könnte sich so oder ähnlich damals im heutigen Frankenberger Land ereignet haben. Zwar liegen bislang keine Nachweise für eine längere, feste Besiedlung des Frankenberger Raumes durch Neandertaler vor. Es ist aber zumindest bewiesen, dass dieser engste Verwandte heute lebender Menschen auf Nahrungssuche auch unsere Region durchstreifte. Entsprechende Funde liegen vor.
Maßgeblichen Anteil daran hat Birgit Belohlavek-Hesse. Die Frankenbergerin ist Hobby-Archäologin. Die 56-Jährige gräbt aber nicht in der Erde, um längst Vergangenes aus dem Dunkel der Geschichte wieder ans Tageslicht zu holen. Sie lässt quasi graben. Und macht dann aufschlussreiche Entdeckungen auf Äckern.
Bei sogenannten Feldbegehungen blickt sie mit Argusaugen auf den heimischen Ackerboden, den Landwirte vorher umgepflügt haben. Dadurch werden nicht nur herkömmliche Steine nach oben befördert, sondern auch von Menschenhand bearbeitete Steine als Keilmesser und Werkzeuge aus einer Epoche, die als „das Zeitalter der Neandertaler“ bezeichnet wird – das Mittelpaläolithikum. Für die Feldbegehungen besitzt sie eine Erlaubnis. Und: „Die Landwirte, mit denen ich bislang gesprochen habe, zeigten sich freundlich interessiert, nachdem sie wussten, warum ich mich auf ihrem Acker befinde.“
Ein einfacher Schaber und ein Schaber mit bogenförmiger Schneide sind zwei ihrer insgesamt 35 Ackerfunde zu dieser Menschenart. Solche selbst angefertigten Schaber aus Stein – wenige Zentimeter groß – wurden beispielsweise zur Holzbearbeitung von Jagdwaffen verwendet. Rinde ließ sich damit gut von einem Ast entfernen. Schaber dienten aber auch dazu, Körper-Fett abzutrennen.
Gefunden wurde von ihr auch ein sogenannter Bohrer. Mit ihm konnten Neandertaler beispielsweise ein Loch in Tierhäute oder Felle bohren. Vielleicht auch in Fleisch, um es mit Fäden aus Pflanzenfasern oder Sehnen zusammenzubinden.
Zu ihren Funden gehört außerdem ein Keilmesser. Dieses spielt bei der Frage eines Neandertaler-Aufenthaltes in der Frankenberger Region eine besondere Rolle. Denn Keilmesser wurden neben anderen Funktionen auch zum umfangreichen Zerlegen von größeren Fleischstücken genutzt. Dies stärkt die Vorstellung, dass die jagenden Neandertaler zum Beispiel in der Ederaue ihre Beute vor Ort zerlegt haben. Denn ein erlegtes, aber komplettes Wollnashorn über eine weitere Strecke zu transportieren, dürfte nicht möglich gewesen sein. Immerhin war es vier Meter lang und zwei Meter hoch.
Die Entdeckungen machte Birgit Belohlavek-Hesse bei Feldbegehungen im Umkreis von Frankenberg in den vergangenen zehn Jahren. Den bislang letzten Fund machte die 56-Jährige Ende 2024.
Es ist bei der Bewertung der genannten Funde seriös davon auszugehen, dass diese Jäger sich nach dem erfolgreichen Beutezug mit zahlreichen größeren Fleischstücken bepackt wieder auf den Rückweg zu ihrem eigentlichen Herkunftsort machten. Die sieben Neandertaler-Männer könnten Mitglieder einer Großfamilie gewesen sein, die in der genannten Zeit vor rund 100.000 Jahren einen Wohnplatz bei Edertal-Buhlen besiedelte.
Eine Existenz dieses festen Neandertaler-Aufenthaltsorts über einen sehr langen Zeitraum ist wissenschaftlich belegt. Neben dem Wohnplatz diente er den Jägern und Sammlern auch als Jagdstation. Bekannt wurde Buhlen unter den 130 Neandertaler-Fundorten als die Fundstätte mit den zahlreichsten Tierknochenfunden, Keilmessern und kunstvollen Artefakten. Von einem Neandertal-Mädchen wurde ein Zehenknochen gefunden. Die Funde werden im Hessischen Landesmuseum in Kassel ausgestellt. Dieser Fundplatz im Waldecker Land an einem Felsen bestand aus einer oberen und einer unteren Wohnstätte. Die Neandertaler errichteten zeltartige Hütten möglicherweise aus Tierhäuten und legten Feuerstellen an. Als Kleidung dienten ihnen Felle.
Kilometerweite Beutezüge
Felle, Leder, Holzgeräte und Fleisch wurden mit Steinwerkzeugen bearbeitet. Das Rohmaterial Kieselschiefer, Karneol und Quarzit förderten sie aus dem Geröll der Eder und Netze. Beutezüge dürften sie kilometerweit über viele Tage weg von ihrem Wohnplatz geführt haben. Hobby-Archäologin Birgit Belohlavek-Hesse: „Es ist aufgrund der Funde hier bei uns nicht auszuschließen, dass Neandertaler aus Buhlen auf der Nahrungssuche auch in den heutigen Frankenberger Raum kamen.“ Die Entfernung beträgt rund 25 Kilometer. Für Urzeit-Jäger und -Sammler habe unsere Region gute Voraussetzungen geboten. „Es gab entlang der Eder und der Bäche geeignete kurzzeitige Jagdlager- und Siedlungsplätze, teilweise sogar Felsformationen ähnlich wie in Buhlen, die Schutz vor Niederschlag und Wind boten.“ Die Neandertaler ernährten sich je nach klimatischen Gegebenheiten unter anderem von Mammut, Wollnashorn, Rentier und Fisch sowie Samen, Beeren und anderen Pflanzen.
Das ur- und frühgeschichtliche Interesse von Birgit Belohlavek-Hesse beschränkt sich nicht nur auf Neandertaler. Auch für andere Epochen hegt sie eine Leidenschaft. Aber gerade die jüngsten Funde aus der Zeit des engsten Verwandten des heutigen Homo sapiens im Frankenberger Raum haben ihre spezielle Neugier geweckt. Denn es stellt sich weiterhin die Frage, ob es hier tatsächlich einmal einen festen Neandertaler-Wohnplatz auf längere Zeit wie den bei Edertal-Buhlen in unserer Region gegeben haben könnte. Bislang zumindest spricht nichts dafür: „Die bisherigen Fundorte bei uns sind zu weit verstreut, als dass Rückschlüsse auf eine Ansiedlung abgeleitet werden könnten.“
Aber: Die ältesten bekannten Neandertaler lebten vor rund 400.000 Jahren. Erst vor rund 40.000 Jahren starben sie aus. In dieser extrem langen Zeitspanne wäre ein zwischenzeitlicher, fester Neandertaler-Wohnplatz hier also durchaus denkbar. Die Hobby-Archäologin unterstreicht: „Wenn es neue Oberflächenfunde konzentriert auf einem engeren Raum geben würde oder Ausschachtungsarbeiten, zum Beispiel für ein Haus, eine Kanalleitung oder eine Stromtrasse, mit entsprechenden Auffälligkeiten tiefer in der Erde, dann könnte das Landesamt für Denkmalpflege gezielt Grabungen ansetzen.“
Die Vorstellung, vielleicht irgendwann Merkmale eines festen Neandertaler-Wohnplatzes im Raum Frankenberg zu finden, lässt ihre Augen leuchten: „Damit würde ein völlig neues Kapitel in der Neandertaler-Forschung geschrieben.“
KLAUS JUNGHEIM
Raum Frankenberg ist kein weißer Fleck mehr
Ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit geht Birgit Belohlavek-Hesse mit Erlaubnis des Landesamts für Denkmalpflege in Marburg nach. Die Einrichtung wird von ihr über ihre Funde informiert, sie werden dort registriert und die Aufzeichnungen archiviert. Ihre Funde selbst bleiben in ihrer Obhut.
Sie sei die einzige Person im Frankenberger Raum, die in Zusammenarbeit mit dem Landesamt für Denkmalpflege Feldbegehungen unternimmt, sagt die 56-Jährige. Die Hobby-Archäologin ist hauptberuflich als Medizinische Fachangestellte in einer Frankenberger Arztpraxis tätig.
Das Interesse am Sammeln von Steinen begann bei Birgit Belohlavek-Hesse schon als kleines Kind. Beim Urlaub mit den Eltern an der Ostsee sammelte sie zum Beispiel Bernstein und versteinerte See-Igel. Das ließ sie nicht mehr los. Wurde zur Leidenschaft. Sie tauchte immer tiefer und breitgefächerter in das Dunkel der Ur- und Frühgeschichte ein.
Die 56-Jährige besitzt eine große Sammlung prähistorischer, von Menschen einst bearbeiteter Steine zur Nutzung als Waffe oder Werkzeug. Nicht nur von Neandertalern. Diese Steine hat sie bei ihren sogenannten Feldbegehungen gefunden: „Dafür entwickelt man irgendwann ein besonderes Auge.“
Dass Birgit Belohlavek-Hesse sich seit sehr vielen Jahren derart intensiv mit der Ur- und Frühgeschichte des Frankenberger Landes beschäftigt, hat auch mit einer früheren Verärgerung zu tun: „Ich hatte festgestellt, dass unser Raum auf den Fundkarten immer einen weißen Fleck darstellte. Das hat mich gestört. Den wenigsten Menschen war bekannt, dass hier einst vor Jahrtausenden und Aberjahrtausenden eine Fülle menschlichen Lebens existierte.“ Durch die ehrenamtliche Arbeit der Hobby-Archäologin gibt es diesen weißen Fleck nicht mehr. Sie bringt nach und nach Licht ins Dunkel der Frühgeschichte des Frankenberger Landes.
JUN
Sie konnten sprechen, malen und basteln
Diese Nachbildung eines Neandertalers steht im Museum Mettmann (Nordrhein-Westfalen). © Foto: Oliver Berg/dpa
Die ältesten bekannten Neandertaler lebten vor rund 400.000 Jahren. Sie besiedelten Europa, den Nahen Osten, Zentralasien und das westliche Sibirien. Wissenschaftler gehen davon aus, dass Neandertaler über eine vollständige Sprache verfügten. Im Jahr 1983 wurde in einer Höhle in Israel ein Neandertaler-Zungenbein gefunden. Deshalb vermuten Wissenschaftler, dass die Neandertaler sprechen konnten: Der kleine Knochen sitzt an Muskeln und Bändern, die eine Artikulation mit der Zunge möglich machen.
Die Neandertaler waren geistig auf einem weitaus höheren Niveau, als dies die Forschung ihnen lange Zeit zutraute. Beispielsweise waren sie als frühe Künstler im heutigen Spanien kreativ. Sie mischten Pigmente, bastelten Perlen aus Muscheln und verzierten Höhlenwände mit Wandmalereien. In drei spanischen Höhlen entdeckten Forscher mehr als ein Dutzend Wandmalereien, die mehr als 65.000 Jahre alt sind. In der Cueva de los Aviones im Südosten Spaniens fanden sie Muschelperlen mit Löchern sowie Pigmente, die mindestens 115.000 Jahre alt sind.
Das alles hielt den Untergang der Neandertaler aber nicht auf. Vor rund 40.000 Jahren starben sie aus – und zwar mit dem Übergang vom mittleren zum jüngeren Abschnitt der Altsteinzeit und der Ausbreitung des Homo sapiens. Der sogenannte moderne Mensch erreichte das nördliche Europa schon vor 45.000 Jahren.
Die Bezeichnung „Neandertaler“ geht auf das Neandertal zurück, einen zwischen den Städten Erkrath und Mettmann gelegenen Talabschnitt der Düssel. Dort, im heutigen Bundesland Nordrhein-Westfalen, wurde 1856 das Teilskelett eines Neandertalers gefunden.
Übrigens: Die Aussage zum kompletten Aussterben der Neandertaler trifft nicht 100-prozentig zu. Denn ein Team um den schwedischen Genetiker Svante Pääbo war es gelungen, die Erbsubstanz des Neandertalers zu entschlüsseln. Resultat: Ein bis vier Prozent unserer DNA hat uns der Neandertaler vererbt. Neandertaler und Homo sapiens lebten eine vergleichsweise kurze Spanne nebeneinander in derselben Zeit – und sie haben offenbar Sex miteinander gehabt und Nachkommen gezeugt. Heißt: Noch heute tragen Europäer ein Stück Neandertaler in sich.
JUN
Quellen: Planet Wissen/National Geographic/Wikipedia
2025 WLZ 18. 01.