Wohlfühlort zum Einkaufen
Nach 111 Jahren schließt das kleine Warenhaus am Samstag ein letztes Mal
Das „Wohnzimmer der Waldecker“ am Marktplatz: Das gegenüberliegende, alte “kleine Warenhaus“ der Familie Dietz zur Weihnachtszeit. © Fotos: Sabine Degenhardt
Waldeck – Die Familientradition bestand seit über 111 Jahren. Was mit einem Geschäft in Mehlen begann, endet nun auf dem Marktplatz in Waldeck. Mit dem „Kleinen Warenhaus“ geht am 28. Dezember eine Ära zu Ende. Dann schließen Jochen und Christa Dietz ihr Geschäft.
„Hallo, grüß dich“, der freundliche Ton des Ehepaares Dietz fällt sofort auf, wenn man ihren Laden betritt. „Ein freundliches Wort kostet doch nichts“, drückt Jochen Dietz den Umgang mit seinen Kunden aus. Schließlich hat er sein Fach von der Pike auf gelernt. „Ich mache Dienstleistung seit 50 Jahren“, sagt er stolz. Der gelernte Einzelhandelskaufmann wollte mit seinem kleinen Warenhaus eine „heile Welt verkörpern, alle sollten sich wohl fühlen“. Immer hatte er Zeit für ein privates Gespräch oder ein „kleines Schwätzchen“. Das fehle den Menschen im Discounter.
So erfuhr Dietz von so manchen Problemen seiner Kunden. „Die Menschen haben bei uns ihr Herz ausgeschüttet, da ging es auch mal um Liebeskummer“, erinnert sich der 67-Jährige. Für einen Spaß war er immer zu haben. Viele Kinder haben in seinem Laden ihre Hausaufgaben gemacht, während sie auf ihre Eltern warteten. Manchmal spielten sie auf seinem Tresen Tischtennis. Einem Jungen gab er über seine Mutter ein Spielzeugauto mit ins Krankenhaus. Die Krankenschwester fragte den Kleinen, wo er das Auto herhabe. Der Junge antwortete. „Von Jochen“. Die Schwester fragte nach, wer denn Jochen sei und der Junge sagte: „Was, du kennst Jochen nicht?“.
Seine Hilfsbereitschaft über die Arbeit im Geschäft hinaus war groß. Er brachte einen Gast, der den Bus verpasst hatte, kurzerhand nach Bad Wildungen. Als er bei einem kaputten Fahrrad nicht helfen konnte, fuhr er den Radler nach Giflitz, um das Rad dort reparieren zu lassen, und nahm den Mann auch mit zurück nach Waldeck. Ein Urlauber kaufte ein Kajak im kleinen Warenhaus. Nach zwei Tagen kam er zurück und meinte, sein kleines Kind sitze immer im Wasser. Kurzerhand nahm Dietz das Kajak zurück und verkaufte dem Vater ein Familienboot. Bei Urlaubsende kam die Familie noch einmal zurück und bedankte sich. „Der Kunde muss zufrieden sein“, erklärt Dietz.
Im Jahr 2017 stand ein Team von der ZDF-Drehscheibe in seinem Geschäft, damals noch gegenüber, Marktplatz 1. Als die Reporterin nach seinem Sortiment fragte, antwortete Dietz schlagfertig: „Bei uns gibt’s ‘n‘ Schraube genauso wie ‘n‘ BH-Verlängerung.“ „Wir hatten einfach alles“, sagt er strahlend in Erinnerung an die lustige Szene. Die Reporterin meinte am Ende des Beitrags, das kleine Warenhaus sei „gleichzeitig Kiosk, Baumarkt und Wohlfühlwohnzimmer von Waldeck“.
Im Jahr 2018 wurde im neuen, kleineren Laden eine Szene für den Film „Die verlorene Tochter“ gedreht. Der Name „Das kleine Warenhaus“ blieb im Original erhalten. „Das war aufregend und interessant“, erinnert sich Dietz gerne an diese Begebenheit zurück.
Dietz ist seinem Lebensmotto treu geblieben: „Man kann etwas bewegen, wenn man wirklich möchte“. Dementsprechend hat er auch immer wieder neue Sprüche an seine Eingangstür geklebt, so wie diesen: „Weißt du nicht mehr ein noch aus, dann komm ins kleine Warenhaus“. Über 700 Stammkunden habe er über die Jahre auf ihrem Weg begleitet. 41 Jahre haben Christa und Jochen Dietz ihr „kleines Warenhaus“ gemeinsam geführt. Ihre freie Zeit wollen sie gerne mit den vier Enkelkindern verbringen. Außerdem lieben beide ihren Garten. Christa Dietz ist im Körnchenclub in Mehlen und bei den Landfrauen in Waldeck engagiert, während Jochen Dietz seit 23 Jahren Vorsitzender des Shanty Chores in Waldeck ist. Kleine Reisen an die See, in die Eifel oder an die Spree stehen auf dem Programm. „Gesund bleiben, das ist das Wichtigste“, ergänzt Christa Dietz. Ihr Mann Jochen kann sich zudem vorstellen, im Tourismusbereich zu arbeiten, als Gästeführer vielleicht.
„Mit einem lachenden und einem weinenden Auge“ werden sich die beiden von ihrem kleinen Warenhaus verabschieden. „Den Kontakt zu den Menschen werde ich vermissen“, resümiert Jochen Dietz. Was die Geschäftsaufgabe für ihn bedeutet, weiß er nur selbst. Vermissen werden ihn die Waldecker auf jeden Fall.
SABINE DEGENHARDT
Familienunternehmen seit 1913
Der Großvater von Jochen Dietz, Friedrich Dietz, gründete im Juli 1913 ein Lebensmittelgeschäft im eigenen Haus in der Affolderner Straße 1 in Mehlen. Das nach und nach erweiterte Geschäft wurde am 1. Januar 1951 an den Sohn Wilhelm übergeben.
Wilhelm Dietz schloss sich mit seinem Geschäft der Edeka-Genossenschaft an. Am 20. März 1953 eröffnete er die erste Filiale in Waldeck in der Gartenstraße. Im Jahr 1962 erwarb Wilhelm Dietz am Marktplatz einen Teil des Hankelschen Hofes. Hier entstand ein moderner Selbstbedienungsladen, der am 15. November 1963 eröffnet wurde. Das Gründungsgeschäft in Mehlen wurde im August 1965 geschlossen.
Am 15. Oktober 1970 richtete der Inhaber einen dritten Filialbetrieb am Marktplatz ein, um Haushalts-, Textil- und Spielwaren vom Hauptgeschäft zu trennen. 1987 übernahm Jochen Dietz von seinem Vater Wilhelm Dietz das Geschäft am Marktplatz 1, im Jahr 2018 verkleinerter er sich mit seinem „Kleinen Warenhaus“ und zog in das Haus Marktplatz 2.
SABINE DEGENHARDT
2024 WLZ 24. 12.