“Kleinste Verbesserung hat große Bedeutung”

Telefonate mit Verwandten in Syrien bewegen zwei Waldecker mit syrischen Wurzeln

Bad Wildungen/WaldeckSie eröffnen zwei andere deutsche Perspektiven auf die Lage in Syrien nach dem Sturz des Assad-Regimes; zwei Perspektiven allerdings, die geprägt sind durch einen engen Bezug zur Stimmung in der syrischen Bevölkerung: Sowohl der Waldecker Latif Hamamiyeh Al Homssi als auch der Wildunger Dr. Joseph Mahfoud unterhalten lebendige Kontakte zu Verwandten in Syrien.
Cousins, Onkels und weitere muslimische Verwandte von Latif Hamamiyeh Al Homssi leben in der Hauptstadt Damaskus. Der Bruder und weitere Mitglieder der Familie des Christen Joseph Mahfoud wohnen an der syrischen Mittelmeerküste.
Al Homssis Verwandte gehören der sunnitischen Glaubensrichtung an und damit der syrischen Bevölkerungsmehrheit von rund 80 Prozent. Christen bilden mit vielen weiteren Minderheiten die übrigen 20 Prozent. Assad ist selbst Mitglied der Minderheit der Alawiten, einer schiitischen Glaubensrichtung des Islam.
Al Homssi ist in Deutschland geboren, aufgewachsen und verwurzelt. „Ich bin sehr gerne Waldecker und will´s auch bleiben“, sagt der Orientwissenschaftler und Integrationsbeauftragte des Landkreises.
Mahfoud kam einst als 24-jähriger Arzt freiwillig nach Deutschland. Er schlug beruflich wie privat Wurzeln, heiratete, wurde Chefarzt der Gefäßchirurgie im Wildunger Stadtkrankenhaus und Deutscher. Seit inzwischen 56 Jahren lebt er in seiner „neuen“ Heimat, ohne seine Geburtsheimat zu vergessen.
„Sehr, sehr viele unserer Familie in Syrien konnten es nicht glauben, dass Assad weg ist“, beschreibt der Waldecker seinen Eindruck aus Telefonaten mit Verwandten in Syrien. „Gerade bei den Jüngeren herrscht Euphorie, weil sie zuvor keine Perspektive für sich sahen“, erzählt der junge Familienvater. Zugleich seien die Angehörigen in Damaskus innerlich zwiegespalten: „In den Köpfen spielt sich viel ab, was sich alles positiv entwickeln kann und zugleich schwingt Unsicherheit mit: Wird es auch so?“
Außenstehenden möge der Jubel unverständlich erscheinen, „aber was für einen Horror stellten 50 Jahre dieses Regimes dar, wenn man nur an die Gefängnisse denkt?“
Bis zum Umsturz vorige Woche „war es bei meiner Familie an der Mittelmeerküste ganz ruhig“, sagt Joseph Mahfoud. Die Hauptstadt und diese Region seien Assad im Wesentlichen geblieben, als der Bürgerkrieg ab 2011 seinen Lauf nahm. Die Russen richteten Militärstützpunkte an der Küste ein. „Sie werden ebenso wenig wie die Iraner binnen Tagen aus dem Land gehen“, ist Mahfoud überzeugt.
Die christliche Minderheit habe lange zu Assad gestanden, weil sie sich Schutz vor innersyrischer Gewalt und Verfolgung von ihm versprachen. Doch die Wirtschaft brach zusammen, die Inflation galoppierte über Jahre davon. Die größten Teile der Bevölkerung wissen nicht mehr, wie sie Lebensmittel bezahlen sollen. „Mein Bruder ist pensioniert. Er war Ministerialdirigent“, berichtet Joseph Mahfoud.
Die monatliche Pension seines Bruders habe dermaßen an Kaufkraft eingebüßt, dass sie heute noch einem Gegenwert von acht Euro entspreche. „Die Preise sind aber so hoch wie bei uns in Deutschland“, erklärt der Wildunger. Für eine Wäsche mit der Waschmaschine brauche die Schwägerin drei Tage, weil Strom am Tag nur 15 bis 20 Minuten verfügbar sei. Unter solchen Bedingungen habe es nur noch zwei Wege gegeben, in Syrien durchzukommen: Entweder man habe zur Entourage Assads gehört oder Beziehungen zu Verwandten im Ausland gehabt.
Und jetzt? Mahfoud und seine Familie in Syrien sind „vorsichtig optimistisch. Das hängt auch damit zusammen, dass jede noch so kleine Verbesserung der Lebensbedingungen von großer Bedeutung ist.“ In seiner Familie in Syrien machten unbestätigte Meldungen die Runde, dass die neuen Machthaber in Aleppo Brot an die Bevölkerung ausgeteilt hätten. Ein Zeichen der Hoffnung auf bessere Zeiten.
Ob sie wirklich eintreten? Es sei viel zu früh, um darauf eine Antwort geben zu können, sind sich Al Homssi und Mahfoud einig. Man müsse mindestens ein paar Wochen warten, um zu sehen, ob und wie sich eine Übergangsregierung etabliere, ob es tatsächlich Aussicht auf demokratische Wahlen gebe. Mahfoud geht davon aus, dass sich rivalisiende Machtgruppen aus der Deckung wagen würden, wenn der erste Staub des Umsturzes verflogen sei. „Wenn die neuen Machthaber aus Idlib nur 50 Prozent dessen umsetzen, was sie ankündigen, muss man zufrieden sein“, meint der Wildunger. Im Moment stünden die neuen Herren nach wie vor auf der Terrorliste. So schnell lasse die Not der Bevölkerung also nicht nach.
Al Homssi geht allerdings davon aus, dass die HTS aus Idlib weiß, wie sie sich als Siegerin nun verhalten muss. „Das ist ein lernendes System und man hat am IS und der Hisbollah gesehen, dass es zu Ende gehen kann“, erklärt der Orientwissenschaftler.
Al Homssi und Mahfoud sind sich einig in ihrem Blick auf das aktuelle Vorgehen Israels. Niemand halte die israelische Regierung auf, deren Truppen in die internationale Pufferzone auf syrischem Gebiet jenseits der Golanhöhen vorgedrungen seien. Unter anderem die Vereinten Nationen kritisieren das als rechtswidrig.
Auf Latif Hamamiyeh Al Homssi wirkt vor diesem ganzen, komplexen Hintergrund die Diskussion um Abschiebungen nach Syrien „umso befremdlicher. Am selben Tag, an dem Assad in den frühen Morgenstunden floh, schaffte es die deutsche Politik, das Thema auf Asyl und Rückkehr zu fokussieren.“ Mangelndes Bewusstsein über die Rechtslage und mangelndes geopolitisches Bewusstsein spreche daraus, meint der SPD-Kommunalpolitiker.
Joseph Mahfoud hat Verständnis für Forderungen nach Rückkehr derer, die sich nicht in Deutschland integriert haben und erst recht, wenn sie in Deutschland Straftaten begangen haben: „Alle die, die Deutsch gelernt, einen Beruf und Arbeit hier haben, freuen sich, wenn sie wieder nach Syrien reisen können, aber sie werden nicht zurückkehren – und ich bin sicher, dass man sie nicht dazu zwingt.“
MATTHIAS SCHULDT

2024 WLZ 19. 12.